Grandioser Gruselschocker

Album der Woche:

Jedes Mal, wenn sie ein Album aufnimmt, habe sie das Gefühl, dabei ein wenig zu sterben. Aber dieses Mal, sagte Florence Welch dem britischen »Guardian«, sei sie tatsächlich dem Tode nah gewesen. Ende 2023 spielte die als Florence + The Machine bekannte Sängerin noch auf einem Festival, obwohl sie innerlich schon fast an einer gerissenen Eileiterschwangerschaft verblutete. Eine Notoperation am nächsten Tag rettete ihr das Leben.

Nun ist die Britin, großer Fan der Serie »Buffy – Im Bann der Dämonen«, dafür bekannt, sich in ihrer barocken, von Kate Bush und Fleetwood Mac inspirierten Musik und Performance mit allerlei Hexenkunst zu umwölken; doch diese Schwarze Magie erschien allzu real: Noch in ihrem Song »King« hatte sie 2022 geraunt: »Wer hätte gedacht, dass mein Mörder von innen kommen würde?«.

Entsprechend ist ihr neues Album »Everybody Scream«, das nun zu Halloween erscheint, ein grandioser Gruselschocker. In Body-Horror-Phantasmagorien wie »Drink Deep« und »Kraken« spürt die 39-Jährige ihren inneren Verletzungen nach. Ihre Trauer über das verlorene Kind verarbeitet sie im hymnischen »You Can Have it All«, in dessen Text sie einen Schmerzensschrei im Garten vergräbt, aus dem ein blutroter Baum erwächst, dessen Blätter dann durchdringend im Wind heulen. Brrrr.

Welch, eine der erfolgreichsten Frauen der Popmusik und eine der wenigen Headlinerinnen des Glastonbury-Festivals in seiner langen Geschichte (die allerdings nur einspringen durfte, als 2015 die Foo Fighters absagen mussten), beklagt auf ihrem bisher grimmigsten Album aber auch die Tatsache, dass sich weibliche Künstler immer mehr anstrengen müssen als Männer, um für voll genommen oder als Stars gefeiert zu werden.

Der Sarkasmus im Schlüsselsong »One of the Greats« ist so bitter, dass er blutet und ätzt: »But I've really done it this time, this one is all mine/ I'll be up there with the man and the ten other women/ And the hundred greatest records of all time«, singt sie trotzig und mit Stolz auf das, was sie sich an Ruhm und Empowerment seit ihrem Debüt von 2009 erarbeitet hat. Aber dann: »It must be nice to be a man and make boring music just because you can«. Nützt alles nichts, solange Männer für ihre langweilige Musik wie Götter gefeiert werden, nur weil sie Männer sind. »Music by Men« geht später auf dem Album noch einmal etwas sanfter in eine ähnliche Richtung.

Als Frau im Musikgeschäft, das scheint das Metathema dieses Albums zu sein, kann man oft eben nicht alles haben, schon gar nicht Fame und Familie zugleich. Das ist jeden noch so markerschütternden Frustschrei wert. (8.2/10)

Kurz abgehört:

Sevdaliza – »Heroina«

Genüsslich spielt Sevda Alizadeh mit ihrer eigenen Unberechenbarkeit: Wer ist denn diese migrantische Stimme im Radio, wer ist dieses Wesen im Video? Frau oder trans. Sie sei maßgeschneidert in Teheran, ihrer Geburtsstadt, singt die iranisch-holländische Sängerin dann im Titelstück ihres dritten Albums »Heroina«: »Chiselled like a Medici Madonna/ Re-, Re-, Renaissance, modern Mona Lisa/ Hang me in the Louvre, La Sevdaliza«.

Ab Mitte der Zehnerjahre hatte sich Sevdaliza in der europäischen Szene einen Namen mit eher düsterer, experimenteller Future-R&B-Musik gemacht, die sich, ähnlich wie bei ihrer britischen Kollegin FKA twigs, um die Zumutungen und Schmerzen des weiblichen Körpers drehte. Passend dazu inszenierte sie sich in ihren Videos und Performances wahlweise als mythisches, wenn nicht biblisches Madonnen-Wesen oder als futuristisches Hybrid aus Mensch und Maschine. Das beste und souveränste Album aus dieser Phase ist »Shabrang« von 2020.

Madonna ist ein Fan und holte Sevdaliza im vergangenen Jahr für einige Gastauftritte auf ihrer »Celebration«-Tournee auf die Bühne. Seit sie während der Pandemie ihre eigene Queerness erkannte, Mutter wurde und sich ein positiveres Körpergefühl erarbeitet hat, entdeckte sie auch die Latin-Musik mit ihren lebensbejahenden Rhythmen und Harmonien für sich. Sie lernte Spanisch, behauptet, dass es zwischen der persischen und lateinamerikanischen Kultur ohnehin viele Gemeinsamkeiten gebe, vor allem, wenn es um marginalisierte Frauen und LGBTQ-Personen gehe.

Durch ihre auf TikTok viral gegangenen Kollabo-Tracks mit Latin-Superstar Karol G (»No me cansare«) sowie den Trans-Ikonen Pabllo Vittar und Yseult (»Alibi«) feierte sie nun ihre ersten Charts-Erfolge in den USA. »Heroina« ist das erste Album, das ausschließlich ihren neuen, griffigen Latin-Sound enthält und ihr den internationalen Durchbruch bringen soll.

Ihre kulturellen Aneignungen, darunter auch die Erfindung eines Cyborg-Exoskeletts, das verdächtig an eine ähnliche Apparatur des venezolanischen trans Künstlers Arca erinnerte, führten allerdings dazu, dass sie in der queeren und elektronischen Indie-Avantgarde nicht mehr ausschließlich als jene »Heldin« der Selbstbestimmung gefeiert wird, als die sich gern stilisiert. Dafür umarmt sie nun der Mainstream, was sie als Botschafterin queerer Kultur und Körperbilder noch sichtbarer macht.

»Wenn ich das, was ich liebe, nämlich multidimensionale Kunsterlebnisse zu schaffen, wirklich ausleben will, muss ich einen gewissen kommerziellen Erfolg erzielen«, sagte Sevdaliza 2024 der »Vogue«, um ihre Hinwendung zum Pop zu erklären. Mit Empowerment macht nicht nur Freunde, vielleicht auch nicht unbedingt bessere Musik. Aber der Erfolg sei ihr gegönnt. (7.7/10)

Dave – »The Boy Who Played The Harp«

Auch der für seine eindringlichen Sozialstudien gefeierte Rapper Dave hatte 2023 seinen ersten internationalen Hit: »Sprinter« , seine gemeinsame Single mit Central Cee, war nicht nur in den USA ein Erfolg, sondern in seiner Heimat Großbritannien der Rap-Song mit dem bisher längsten Lauf auf dem Spitzenplatz der Charts: zehn Wochen in Folge. Aber statt richtig durchzustarten und mit weiteren Blockbuster-Tracks abzukassieren, tauchte der Londoner für zwei Jahre komplett ab. Um jetzt mit einem der schönsten und introvertiertesten Rap-Alben der jüngeren Zeit zurückzukehren.

Eigentlich ist es weniger ein Hip-Hop-Album als eine Kollaboration mit Musikern und Produzentinnen und Produzenten wie Jim Legxacy, Tems, Kano und James Blake, deren sanfter Flow auf sanften, sparsamen Beats musikalisch weit in elektronischen Pop, Trip-Hop und Karibik-Balladerie (»Marvellous«) ausgreift. An einer Stelle in seinen Raps, in denen es um die existenziellen Krisen eines Endzwanzigers nach dem ersten Erfolgsrausch geht, hinterfragt Dave sogar, ob sein Beruf des Sprechgesang-Reporters überhaupt noch Sinn ergibt: »We don’t need no commentators, we can leave that to the sports/ Just listen to the music, why’d you need somebody’s thoughts?«, zweifelt er in der über sieben Minuten langen Selbsttherapie »My 27th Birthday«.

Im Titeltrack hadert er über fatalistischen Piano-Loops damit, dass er nicht den Mut hat, öffentlich oder in seiner Musik das Leiden im Gazakrieg und im Westjordanland anzuprangern, weil er einen »shadow ban« fürchtet: Müsste er sich nicht als PoC mit der ganzen historischen Wucht der Unterdrückung stärker als Protestkünstler positionieren? Aber was, wenn er dann gecancelt würde?

Das ist, ganz am Schluss des Albums, fast schon zu triefnasig und selbstgerecht, zeugt aber immerhin von einem Mut zur Reflexion, der im zeitgenössischen Pop gerade eher selten zu finden ist. So oder so scheint sich der Rückzug in den Kreis seiner kleinen Familie sensibler Kollegen für Dave zurzeit wärmer und sicherer anzufühlen als der eiskalte Fame des Solo-Superstars. Musikalisch ist das vermutlich der größere Gewinn. (8.0/10)