Starschriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o ist tot

Ob sich Menschen in Literaturkreisen mit dem Nobelpreis beschäftigt haben, konnte man in den vergangenen Jahren daran erkennen, wie schnell der Name Ngũgĩ wa Thiong’o fiel und wie leicht er über die Lippen ging. Schon 1979 berichtete die »Zeit«, der kenianische Romancier sei »seit Jahren Kandidat für den Nobelpreis«; in den Ranglisten der Wettbüros belegte er regelmäßig vordere Plätze.

Die Spekulationen um einen möglichen Nobelpreis verhalfen Ngũgĩ wa Thiong’o auch in Deutschland zu einer gewissen Bekanntheit und überwiegend positiven Besprechungen seiner Bücher, die nun auch in deutscher Übersetzung erschienen oder neu aufgelegt wurden.

Als der SPIEGEL im März die 100 besten Bücher der internationalen Literatur seit 1925 auswählte, war auch ein Buch von Ngũgĩ wa Thiong’o darunter: »Herr der Krähen« nannte die Jury »ein Sprachkunstwerk« über die »Selbstaufblähung eines Despoten«, das schon bald nach seinem Erscheinen 2006 als »Afrikaroman des 21. Jahrhunderts« bezeichnet wurde.

Am Mittwoch war Ngũgĩ wa Thiong´o im Alter von 87 Jahren in Bedford im US-Bundesstaat Georgia gestorben, wo er seit vielen Jahren lebte. Das bestätigte eine Sprecherin seines kenianischen Verlegers East African Educational Publishing in Nairobi.

Weder Gefängnis noch Todesdrohungen hielten Ngũgĩ wa Thiong’o davon ab, die Vergangenheit aufzuarbeiten und politische Missstände anzuprangern. Als er Ende 1977 nach der Aufführung eines regimekritischen Theaterstücks festgenommen wurde, schrieb er seinen nächsten Roman in der Zelle auf dem einzigen zur Verfügung stehenden Material: Toilettenpapier.

Schreiben als Waffe

Der Mann von der Bevölkerungsgruppe der Agĩkũyũ galt als Riese der afrikanischen Literatur und eine der wichtigsten Stimmen des Kontinents. Seine Werke wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt. Das war schon allein deswegen bemerkenswert, weil er mehrere seiner Romane in seiner Muttersprache Gĩkũyũ schrieb und nicht wie andere afrikanische Autoren in der Sprache der einstigen Kolonialherren – was den Zugang zum internationalen Buchmarkt erleichtert.

Sein Hauptthema war die Ausbeutung Afrikas, früher durch die Kolonialisten, dann durch andere Mächte. Das Schreiben war seine Waffe und seine Protestform in der letzten Phase der Kolonialherrschaft. Die scharfe Kritik an den britischen Kolonialherren, aber auch an der damaligen kenianischen Regierung von Präsident Daniel arap Moi brachten dem Schriftsteller immer wieder Ärger mit den Behörden ein. Moi, der von 1978 bis 2002 an der Macht war, hatte Ngũgĩ nicht nur ins Gefängnis werfen lassen, sondern sorgte auch dafür, dass er anschließend keine Lehraufträge an kenianischen Universitäten mehr erhielt.

1982 ging Ngũgĩ wa Thiong’o ins Exil – zunächst nach London, später in die USA. In Simbabwe entging er 1986 knapp dem Tod, als Sicherheitskräfte vor seinem Hotel ein Mordkommando entlarvten. Nach mehreren Stationen als Gastprofessor erhielt er 2002 einen Lehrstuhl für englische und vergleichende Literaturwissenschaft an der California University in Irvine, USA. 2004 besuchte er seine kenianische Heimat, doch dort wurde er geschlagen, gegen seine Frau gab es einen sexuellen Übergriff. Erst 2015 hieß ihn sein Heimatland formal willkommen.

Streiter für die Muttersprachen

Eigentlich wurde der im kenianischen Limuru geborene Autor als Kind James Ngugi genannt. Er fand den Namen allerdings zu britisch-kolonial und änderte ihn 1976. Sein erster Roman, »Weep Not, Child« (1964), der international gefeiert wurde, kam unter seinem Jugendnamen heraus. Ngũgĩ befasst sich darin mit dem 1952 ausgebrochenen antikolonialen Unabhängigkeitsaufstand gegen Großbritannien (Mau-Mau-Krieg), bei den Kämpfen verlor der junge Ngũgĩ mehrere Geschwister.

Leidenschaftlich stritt er für die Bewahrung der Muttersprachen in Afrika – auch wenn es allein in seiner Heimat Kenia 42 Sprachen gibt und die Amtssprachen Kisuaheli und Englisch über ethnische Grenzen hinweg die Kommunikation ermöglichen. Der Schriftsteller wurde auch als Stimme des Panafrikanismus gewürdigt.

Einige Bücher Ngũgĩ wa Thiong’os sind auf Deutsch erschienen, neben »Herr der Krähen« auch »Verbrannte Blüten« oder »Träume in Zeiten des Krieges«. 2022 veröffentlichte der Unrast Verlag den Essayband »Dekolonisierung des Denkens«.

Kenias Präsident William Ruto würdigte den Verstorbenen Ngũgĩ auf seinem X-Account: »Der überragende Gigant der kenianischen Literatur hat seinen Stift zum letzten Mal niedergelegt.«

Ngũgĩ wa Thiong’o sei immer mutig gewesen und habe unauslöschlichen Einfluss darauf, »wie wir über unsere Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit sowie den Gebrauch und Missbrauch von politischer und wirtschaftlicher Macht denken.«

Ngũgĩ wa Thiong’o 2018 bei einem Literaturfestival in Venedig: Stimme des Panafrikanismus

Foto: Simone Padovani / Awakening / Getty Images