Alles Gute, liebe Genossen. Ihr mich auch

Sagt jemandem in der SPD der Name Willy Brandt noch etwas? Arbeitersohn, Emigrant, Bundeskanzler, Friedensnobelpreisträger, man kann das alles ergoogeln, dazu Staatsmann, Weltpolitiker, Visionär – bei der Bundestagswahl 1972 (»Willy wählen«) erreichten die Sozialdemokraten mit ihm das heute unvorstellbare Ergebnis von 45,8 Prozent.

Brandt also hielt im Juni 1987 seine Abschiedsrede als Parteivorsitzender. Er hatte eine junge Frau, die nicht SPD-Mitglied war, zur Parteisprecherin machen wollen, die Partei murrte, das war der Auslöser. Wie klein seine Genossen damals dachten, sieht man schon daran, dass diese Margarita Mathiopoulos bald nur noch »die schöne Griechin« genannt wurde. Ein Kompliment auf den ersten Blick, aber auch eine Gemeinheit.

Brandt erklärte seinen Rücktritt, nach 23 Jahren im Amt: erzürnt, erschöpft, wohl auch verletzt. An jenem Junitag 1987 vollbrachte er das Kunststück, versöhnlich und kämpferisch zugleich zu klingen. »Damit wir uns gut verstehen«, sagte er, »wie man sich mit eigenen Fehlern auseinandersetzt, selbstgefällig oder selbstkritisch, das sagt einiges aus über den Charakter von Politikern und über den Inhalt von Politik.«

Auch damals gab es ja schon den Wunsch der Menschen nach Eindeutigkeit. Nach Politikern, die sich die Mühe machen, Politik zu erklären. Die das Komplexe einfach machen, aber nicht zu einfach. Die Konflikte benennen. Die das klare Wort schätzen und den Menschen etwas zumuten.

In seiner Partei hatte Brandt zunehmend viele überfordert. Er hatte schon immer zum Grübeln und zu einsamen Entschlüssen geneigt. Nachdem er als Bundeskanzler zurückgetreten war, sah er staunend zu, wie er sich vom Parteipolitiker allmählich zur historischen Figur wandelte. Je größer er wurde, desto kleiner fühlten sich viele in der SPD. Sein Abschied überraschte wenige, betrübte manche und erleichterte die allermeisten.

In seiner Rede widersteht Brandt der Versuchung, die Gelegenheit zu einer Abrechnung zu nutzen, aber nur halb. Er ist verletzt, und er zeigt es. Offenbar hat er sich vorgenommen, die Freunde zu loben und die Gegner zu strafen, das eine so beiläufig wie möglich, das andere so deutlich wie nötig. Die besonderen Umstände führen am Ende dazu, dass das meiste nur angedeutet wird.

In einer Abschiedsrede geht es vor allem um die großen Linien. Um das, was war, um das, was kommt. Und um das, was bleiben soll von einer Amtszeit, einer Ära, einem Leben.

Dass einige ihm die Rolle eines Sündenbocks vom Dienst zugedacht hatten? »Dazu war ich nicht gewählt noch gewillt.« Oft machen Abschiedsreden dem, der sie hält, deutlich mehr Spaß als denen, die sie anhören müssen.

Und dann folgt eine Passage, die eine Karriere, ein Leben, ein ganzes Lebenskonzept in vier Hauptsätze bündelt. Er habe Fehler gemacht, sagt Brandt. Er habe nicht immer alles bedacht. Das tue ihm leid. »Und das ist es dann auch.«

Die Schönheit dieser Sätze ist die Schönheit von Präzision, von Einfachheit. Brandt beherrschte die Kunst der Verknappung, des Verzichts auf alles Ornamentale. Hier verabschiedete sich einer, der sich lange vorher schon von seiner Partei entfernt hatte: lakonisch, ohne Pathos, norddeutsch-nüchtern und selbstbewusst.

Und das ist es dann auch. Fehler eingestehen, aber nicht zu sehr. Abschied nehmen und trotzdem in Erinnerung bleiben. Der Partei dienen, aber auch dem eigenen Vermächtnis. Sich flexibel zeigen und dabei trotzdem gerade bleiben.

Sagen, was ist. »Enttäuschungen, die einem nicht erspart bleiben, haben meine Neugier auf Mitmenschen nicht schwinden lassen«, sagte Brandt in jener Rede. »Ich kann gut vergessen, aber wenn ich nicht will, dann nicht.«

Willy Brandt, Sozialist und Menschenkenner, sprach an jenem Tag auch über Eigenverantwortung, über Wettbewerb und das marktwirtschaftliche Prinzip. Und darüber, dass der Staat sich nicht in alles einmischen solle. »Der Staat kann und soll nicht alles machen und regeln wollen«, sagte er. Aber es kann natürlich sein, dass ihm viele in der SPD da schon nicht mehr richtig zugehört haben.

Politikerin Mathiopoulos, 1987: Bald nur noch »die schöne Griechin« genannt

Foto: Bonn-Sequenz / IMAGO

SPD-Politiker Brandt (M.) mit US-Präsident John F. Kennedy und Bundeskanzler Konrad Adenauer, 1963 in Berlin: Die Kunst der Verknappung

Foto: Will McBride / bpk

Brandt 1970 am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos

Foto: Stanislaw Czarnogórski / PAP / picture alliance