Syrien ein Jahr nach Assads Sturz: Zusammenbruch ist noch kein Aufbruch
Zehntausende Menschen auf den Straßen, die den Sturz der Assad-Diktatur vor einem Jahr bejubeln – sind das nicht schöne Bilder? Sie schwenken die neue Flagge, rufen mutmachende Parolen, singen im ganzen Land. Und überall im Ausland sind die Geflüchteten unterwegs, bis heute, auch in Berlin. Syrer, wie befreit. Und sie wissen doch nicht, was der Morgen bringt.
Der Blick, unverstellt, ungetrübt, zeigt die Lage. Ja, Baschar al-Assad, der Schlächter, ist nach Russland geflohen, nachdem Rebellen unter dem Kommando des heutigen Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa Damaskus eingenommen hatten. Und ja, es gibt ein Aufatmen nach mehr als 13 Jahren Bürgerkrieg.
Aber ein neuer Arabischer Frühling lässt auf sich warten, die Wunden durch Assads brutale Herrschaft mit Hunderttausenden Toten und Folteropfern sind noch lange nicht verheilt.
Die nationale Einheit zu demonstrieren, ist das eine, sie zu erringen, das andere. Außenminister Johann Wadephul hatte schon recht, als er bei seinem jüngsten Besuch sagte, Syrer, Geflüchtete, könne man nicht einfach in diese Trümmerwüste zurückschicken.
Stephan-Andreas Casdorff ist Editor-at-Large des Tagesspiegels. Er hofft, dass Syrer nicht zur Rückkehr gezwungen werden, sondern sich vorher umschauen können. Viele werden dann ja auch schon gehen. Aber erst dann.
Es gibt doch noch so viele Spannungen in Syrien. Die Kurden im Nordosten, die religiösen Minderheiten wie die Drusen – alle fürchten sie die Gewalt. Die Angst vor bewaffneten Milizen, vor Terrorzellen, bleibt gegenwärtig. In einigen Regionen wird immer noch gekämpft, Anhänger des alten Regimes versuchen, das Land zu destabilisieren.
,Rückführung’ der Geflüchteten – die sie fordern, haben gut reden. Doch in der Sache, im Blick auf die Fakten, stehen sie auf schwankendem Boden.
Stephan-Andreas Casdorff
Und Scharaa, vordem ein Dschihadist, ein Milizenchef, soll es richten? Kann er es? Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man. Er trägt jetzt Anzug statt Kampfmontur, bemüht sich um zivilgesellschaftlichen Fortschritt im Inneren wie im Äußeren. Es gibt neue diplomatische Beziehungen zur arabischen Welt, zu den USA, der EU, zu Staaten in anderen Weltregionen. Das Sanktionsregime galt ja auch dem alten Regime.
Aber wahr bleibt, dass der Zusammenbruch noch kein Aufbruch ist. Wenig ist gut in Syrien, vieles ist fragil.
Dennoch wird im Westen, besonders hier in Deutschland, die „Rückführung“ von syrischen Geflüchteten gefordert. Die, die sie fordern, haben gut reden. Doch in der Sache, im Blick auf die Fakten, stehen sie auf schwankendem Boden.
Zwei Drittel der Bevölkerung Syriens sind auf Hilfe angewiesen
Rund 16 Millionen Menschen in Syrien sind auf Hilfe angewiesen, das sind zwei Drittel der Bevölkerung. Sieben Millionen sind weiter innerhalb des Landes vertrieben. Es mangelt an allem, an ausreichend Wohnraum, an Unterstützung. Der internationale Plan für humanitäre Hilfe in Syrien für 2025 war Anfang Dezember erst zu 30 Prozent finanziert. Die humanitäre und wirtschaftliche Lage im Land ist katastrophal. Wie sollen sich Rückkehrende da ein neues Leben in der alten Heimat aufbauen?
Zumal sehr viele Syrerinnen und Syrer hier heimisch geworden sind, hier Familien gegründet haben, hier einen wichtigen Beitrag leisten. Rund 250.000 syrische Staatsbürger sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, etliche in Mangelberufen. Viele Kinder sind nach 2015 in Deutschland geboren und aufgewachsen, sind gut integriert, Fachkräfte von morgen. Sind sie alle jetzt nicht mehr willkommen?
Wenn sich die Menschen dennoch eine Rückkehr vorstellen können, dann sollte sich die internationale Gemeinschaft stärker als bisher beteiligen. Es gibt das Recht des Menschen auf ein Leben unter würdevollen Bedingungen, ohne Angst um das eigene Leben.
Trotz allem, trotz der höchst angespannten Lage, trotz zerstörter Städte und Landstriche, sind schon mehr als eine Million Syrer zurückgekehrt. Die Zahl steigt. Wer mehr will, muss konstruktive Angebote machen; muss gemeinsam mit Rückkehrwilligen Syriens Wiederaufbau betreiben.
Und wer die nach Deutschland Geflüchteten dafür in den Blick nimmt, sollte ihnen in jedem Fall die Möglichkeit zu Erkundungsreisen geben, ohne dass sie hier ihren Schutzstatus verlieren. Das ist nicht zu viel verlangt – und nicht zu viel gegeben. Die Menschen in Syrien müssen doch wissen, was morgen auf sie wartet.