Debatte um Rente und Lebensarbeitszeit: Ökonomen wollen Beamte mehr als fünf Jahre später in Pension schicken
In Deutschland wird heftig darüber diskutiert, wie die Sozialsysteme abgesichert werden können. Im Fokus steht beim Thema Rente auch die Lebensarbeitszeit. Angeheizt wurde die Debatte zuletzt durch Forderungen von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, die Deutschen müssten länger arbeiten.
Ihre Aussagen lösten heftigen Widerspruch, aber auch Zustimmung aus. Die CDU-Politikerin bekräftigte sie gerade erst. Jetzt machen Ökonomen Vorschläge, die den Streit weiter befeuern dürften. Sie rücken dabei die Staatsdiener in den Mittelpunkt.

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Wissenschaftler des Pestel-Instituts fordern, dass Beamte künftig fünfeinhalb Jahre länger arbeiten sollten als Arbeiter, weil sie im Schnitt so viel länger leben. Dies berichtet der „Spiegel“ unter Berufung auf eine Untersuchung von Wissenschaftlern, die die unterschiedliche Lebenserwartung bei der Frage nach einem gerechteren Rentensystem einbezieht.
Bei einer bisher geltenden gesetzlichen Regelaltersgrenze von 67 Jahren könnten Beamte nach Rechnung des Instituts erst mit 72,5 Jahren abschlagsfrei in Pension gehen.
Überdurchschnittlich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeiter erreichen die Rente nicht einmal, weil sie früher sterben.
Matthias Günther, Leiter des Pestel-Instituts
„Wer weniger verdient, lebt statistisch auch kürzer. Überdurchschnittlich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeiter erreichen die Rente nicht einmal, weil sie früher sterben“, sagte Matthias Günther, Leiter des Pestel-Instituts, dem Blatt. Umgekehrt würden die, die mehr verdienten – gewissermaßen proportional zu ihrem Einkommen – statistisch auch deutlich älter.
„Sie bekommen also eine höhere Rente oder Pension – und das auch noch wesentlich länger. Menschen mit geringen Einkommen dagegen müssen mit einer deutlich niedrigeren Rente klarkommen, von der sie außerdem deutlich kürzer überhaupt etwas haben“, sagte Günther.
Lebenserwartung unterscheidet sich nach Jobstatus deutlich
Aktuellen Zahlen zufolge erhielten 2024 rund 22,3 Millionen Menschen in Deutschland Leistungen aus der gesetzlichen, privaten oder betrieblichen Rente. Das waren 0,75 Prozent mehr als im Vorjahr. Ausgezahlt wurden den Angaben zufolge insgesamt rund 403 Milliarden Euro, das waren 5,7 Prozent mehr als im Vorjahr.
Der Bericht bezieht sich auch auf eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2021, der zufolge männliche Beamte im Schnitt ab dem 65. Lebensjahr eine Lebenserwartung von weiteren 21,5 Jahren haben. Bei männlichen Arbeitern sind es demnach nur 15,9 Jahre – ein Unterschied von etwa fünfeinhalb Jahren.
Pestel-Institut
Das Pestel-Institut ist nach eigenen Angaben ein unabhängiger, gemeinnütziger Forschungs- und Beratungsdienstleister mit Sitz in Hannover. Es wurde 1975 von dem Systemforscher Eduard Pestel gegründet und forscht unter anderem zu Versorgungssicherheit und Krisenvorsorge, demografischem Wandel und altersgerechtem Wohnen.
Zwischen männlichen Angestellten und Beamten beträgt der Unterschied dem Bericht zufolge gut zwei Jahre. Ein hoher Abstand zeige sich auch bei der Höhe der Einkommen: Männliche Spitzenverdiener haben demnach eine um 6,3 Jahre höhere Lebenserwartung als Geringverdiener.
Ökonomen führen das unter anderem darauf zurück, dass wohlhabendere Menschen besseren Zugang zu medizinischer Versorgung haben und seltener schwere körperliche Arbeiten verrichten.
Vorschlag einer „sozialen Staffelung“
Diese Aspekte würden in der bisherigen Rentendiskussion kaum oder gar nicht berücksichtigt, so die Kritik Günthers. Das derzeitige System führe zu großer Ungerechtigkeit. Viele gut situierte Menschen – Beamte genauso wie Besserverdiener – wüssten im Ruhestand nicht, wohin mit ihrem Geld.
„Gleichzeitig kommen Verkäuferinnen und angestellte Friseure mit ihrer mageren Rente kaum über die Runden“, sagte er. Viele seien auf Grundsicherung im Alter angewiesen. „Und das, obwohl sie 40 oder mehr Jahre in Vollzeit gearbeitet haben.“
Man könnte das Problem aber auch lösen, ohne dass Beamte länger arbeiten müssten, so Günthers. Dem Ökonomen zufolge würde eine „soziale Staffelung“ schon reichen: Die Renten von Geringverdienern müssen angehoben werden. Umgekehrt wäre bei Besserverdienern eine „soziale Dämpfung“ der Rentenhöhe vertretbar.
Beamtenbund weist Vorschlag scharf zurück
Der Bundesvorsitzende des Deutschen Beamtenbundes (DBB), Volker Geyer, wies den Vorschlag, Beamte länger arbeiten zu lassen, scharf zurück. „Es ist schon verwunderlich, mit welchen absurden Ideen die Debatte um die sozialen Sicherungssysteme inzwischen geführt wird“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Kein Mensch habe eine durchschnittliche Lebenserwartung. „Beamte, Arbeitnehmende, Selbstständige, Männer, Frauen, Akademiker, Hauptschüler, Übergewichtige, Sportler – bei jeder Gruppe käme eine andere Lebenserwartung raus. Wollen wir wirklich auf diesem Niveau diskutieren?“, fragte Geyer weiter.
Bas nannte Vorstoß von Reiche „Scheindebatte“
In der Debatte um die Rente hatte Wirtschaftsministerin Reiche gesagt, die Lebensarbeitszeit in Deutschland müsse steigen. Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machten das „unumgänglich“. Es könne „auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen“.
Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas kritisierte die Aussagen und sprach von einer Scheindebatte. „Viele erreichen aus gesundheitlichen Gründen bereits das jetzige Renteneintrittsalter nicht“, sagte die SPD-Co-Chefin. „Für diese Menschen wäre das eine Rentenkürzung.“
„Wir müssen also erstmal dafür sorgen, dass die Leute länger gesund arbeiten können“, fügte die Ministerin hinzu. Zuspruch erhielt der Vorstoß Reiches dagegen von Okönomen, unter anderem dem Wirtschaftsweisen Martin Werding.
Bas selbst hatte vorgeschlagen, Beamte und Politiker in die Deutsche Rentenversicherung einzahlen zu lassen. Dieser Vorstoß wiederum wird vom Koalitionspartner CDU/CSU kategorisch abgelehnt.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wiederum regte im Juli an, die Zahl der Beamten deutlich zu senken. „Ich möchte nur eins: Dass wir nur noch dort verbeamten, wo es wirklich hoheitliche Aufgaben gibt – aber dann ist irgendwann gut“, erklärte er.