Gedenken an Kriegsende vor 80 Jahren: Steinmeier wirft Putin „Geschichtslügen“ und Trump „Wertebruch“ vor
Vollständige militärische Niederlage, Zusammenbruch, Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur, Neuanfang – für dies alles steht der 8. Mai 1945. Und zumindest im Westteil Deutschlands bedeutete dieser Tag den Start in eine demokratische Zukunft. Der Bundestag kam 80 Jahre später zu einer Gedenkstunde zusammen, um diesen historischen Einschnitt zu würdigen.
Die zentrale Rede am Donnerstag hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er warf der neuen US-Regierung einen „Wertebruch“ vor. „Es ist nicht weniger als ein doppelter Epochenbruch – der Angriffskrieg Russlands, der Wertebruch Amerikas –, er markiert das Ende des langen 20. Jahrhunderts“, sagte der Bundespräsident.
Die Befreier von Auschwitz sind zu neuen Aggressoren geworden.
Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident
Der Kreml verbreite „Geschichtslügen“, wenn er seinen Krieg gegen die Ukraine als „Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus“ deklariere, sagte Steinmeier am Donnerstag. „Putins Angriffskrieg, sein Feldzug gegen ein freies, demokratisches Land, hat nichts gemein mit dem Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg.“
Mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine kritisierte er scharf die Politik von US-Präsident Donald Trump, ohne diesen beim Namen zu nennen: „Aber dass sich nun ausgerechnet auch die Vereinigten Staaten, die diese Ordnung maßgeblich geprägt haben, von ihr abwenden, ist eine Erschütterung von ganz neuem Ausmaß“, so Steinmeier.
In seiner mehrfach von Applaus unterbrochenen Rede betonte Steinmeier: „Auch heute, 80 Jahre später, gilt unser tiefer Dank den alliierten Soldaten und den europäischen Widerstandsbewegungen, die das NS-Regime unter Aufbietung aller Kräfte und mit vielen, vielen Opfern bezwungen haben. Das vergessen wir nicht!“ Amerikaner, Briten, Franzosen und viele andere hätten unter großen Opfern diesen Kampf geführt.
Lesermeinungen zum Artikel
„Steinmeier hat eine, wie ich finde, nachdenkliche, alle aus historischer und gegenwärtiger Sicht wichtigen Aspekte des Anlasses beinhaltende Rede mit einem sehr deutlichen Aufruf zum Schutz der Demokratie gehalten. Seine Worte waren seines Amtes und des besonderen heutigen Tages gleichermaßen würdig und haben mich beeindruckt.“ Diskutieren Sie unter folgendem Link mit Marlia
Der Bundespräsident würdigte in seiner Rede aber auch den Beitrag der Roten Armee – von „Russen, Ukrainern, Weißrussen, allen, die in ihr gekämpft haben“ – zur Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. „Mindestens 13 Millionen dieser Soldaten und noch einmal so viele Zivilisten verloren ihr Leben. Die Rote Armee hat Auschwitz befreit. All das vergessen wir auch nicht.“
Mit seinen „Geschichtslügen“ beschönige Putin jedoch „imperialen Wahn, schweres Unrecht und schwerste Verbrechen“, sagte Steinmeier weiter. „Die Befreier von Auschwitz sind zu neuen Aggressoren geworden.“
Wir müssen militärisch stärker werden, aber nicht um Krieg zu führen, sondern um Krieg zu verhindern.
Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident
Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg sprach Steinmeier auch über die Rolle der Bundesrepublik. „Deutschland wird gebraucht, um um Frieden zu ringen, wo er verloren gegangen ist“, sagte er. Auch das sei ein Auftrag des 8. Mai.
„Wir wissen, wohin Krieg führt. Wir fürchten ihn zu Recht“, sagte Steinmeier. Er verteidigte in seiner Rede gleichzeitig die deutschen Aufrüstungspläne. Man müsse gemeinsam mit europäischen Partnern alles tun, um die „Landnahme“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin aufzuhalten, sagte Steinmeier: „Wir müssen militärisch stärker werden, aber nicht um Krieg zu führen, sondern um Krieg zu verhindern.“

© AFP/John MacDougall
Steinmeier warnte zudem vor Geschichtsvergessenheit. „Unsere Geschichte ist ein kostbarer Erfahrungsschatz“, sagte Steinmeier am Donnerstag bei einer Gedenkstunde im Bundestag. „Wir wissen, wohin Abschottung führt, aggressiver Nationalismus und die Verachtung von demokratischen Institutionen.“ Den 8. Mai bezeichnete das Staatsoberhaupt als Tag der Befreiung, der zugleich zum Kern der gesamtdeutschen Identität gehöre.
„Es waren Deutsche, die diesen verbrecherischen Krieg entfesselt und ganz Europa mit in den Abgrund gerissen haben. Es waren Deutsche, die das Menschheitsverbrechen der Schoah begangen haben. Und es waren Deutsche, die nicht willens und nicht fähig waren, selber das Joch des NS-Regimes abzuwerfen“, betonte Steinmeier. „Daran erinnern wir, wir Deutsche, heute, 80 Jahre später. Wir wissen: Dieser Tag hat unser Land zutiefst geprägt. Wir sind alle Kinder des 8. Mai“, zitierte er einen Satz des Philosophen Jürgen Habermas.
Steinmeier kritisiert indirekt auch die AfD
Mit Blick auf den Mord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden im „Dritten Reich“ verurteilte Steinmeier jede Form von Antisemitismus. „Es ist unerträglich, wenn sich Jüdinnen und Juden nicht mehr sicher fühlen in unserem Land.“
Ohne die AfD namentlich zu nennen, kritisierte er auch die Rechten. Er selbst wundere sich manchmal über die Hartnäckigkeit, „mit der manche, leider auch in diesem Hause, einen sogenannten ,Schlussstrich’ unter unsere Geschichte und unsere Verantwortung fordern“, so Steinmeier. „Flüchten wir nicht aus unserer Geschichte. Werfen wir ihre Lehren gerade dann nicht über Bord, wenn sie uns etwas abverlangen.“
Sie sind häufig die übersehenen Opfer eines jeden Krieges.
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner zum Schicksal der Frauen
Zuvor hatte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner in ihrer Rede das Leid der Frauen und Mädchen hervorgehoben. „Sie sind häufig die übersehenen Opfer eines jeden Krieges“, sagte die CDU-Politikerin. Auch in Deutschland hätten sie „viel Leid ertragen, sexuelle Übergriffe, im und auch nach dem Krieg“.
„Natürlich waren Frauen im Zweiten Weltkrieg nicht frei von Schuld“, führte die Bundestagspräsidentin aus. Dennoch müsse ihnen im Gedenken an die Gräuel des Krieges Raum gegeben werden. Klöckner betonte „auch die unglaubliche Kraft, mit der diese Frauen ums Überleben kämpften und entscheidend zum Wiederaufbau beitrugen“.

© Imago/dts Nachrichtenagentur
Auch Klöckner zog Parallelen zum derzeitigen Krieg in Osteuropa. Putin rechtfertige seine Aggression mit dem Kampf gegen den Faschismus von damals, sagte sie. „Was für ein Missbrauch der Geschichte.“
Und auch in der Ukraine würden heute wieder „Mädchen und Frauen zu Opfern sexualisierter Gewalt, eingesetzt als Kriegswaffe“, sagte Klöckner weiter.
Botschafter von Russland und Belarus nicht eingeladen
Zu der Veranstaltung im Plenarsaal des Bundestags waren auch die in Deutschland vertretenen Diplomaten eingeladen, nicht aber die Botschafter von Russland und Belarus. Sie waren wegen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine unerwünscht, obwohl die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg mit Abstand die meisten Opfer zählte.
Der von Hitler-Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg forderte nach unterschiedlichen Schätzungen weltweit zwischen 50 und über 60 Millionen Todesopfer, die Mehrheit davon Zivilisten. Besonders schwer traf es die Sowjetunion mit rund 27 Millionen Toten. Deutschland verlor etwa 6,3 Millionen Menschen, darunter viele Soldaten.
Der Krieg endete in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, die am 8. Mai 1945 in Kraft trat. Zuvor hatten britische und amerikanische Truppen vom Westen her und sowjetische Soldaten aus dem Osten in verlustreichen Kämpfen weite Teile Deutschlands besetzt. In den Reihen der Roten Armee kämpften auch viele Ukrainer.
Die Kapitulationsurkunde wurde zweimal unterzeichnet – einmal im französischen Reims und dann nochmals im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst. Da war es in Moskau schon nach Mitternacht, weshalb Russland den 9. Mai als Tag der Kapitulation ansieht.
80. Jahrestag ist einmaliger Feiertag in Berlin
Im Land Berlin ist der 80. Jahrestag einmalig ein Feiertag. Aus Sicht der Linken sollte daraus ein bundesweiter gesetzlicher Feiertag werden, um dem Gedenken an das Ende der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs in Europa mehr Raum zu geben.
„In vielen Ländern wird der Tag der Befreiung bereits gefeiert“, heißt es in einer Erklärung der Partei- und Fraktionsspitze der Linken. „Neben dem Tag der Einheit auch einen bundesweiten Feiertag im Zeichen der Freiheit einzuführen, hätte dabei Symbolwirkung über unsere Grenzen hinaus.“
Der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland wird auch in den Hauptstädten der Siegermächte gefeiert. Die größte Militärparade findet in Moskau statt – aber erst am morgigen Freitag. In London gab es am Montag bereits eine kleinere Parade.
Nur in Washington gibt es keine Feierpläne. Dafür will US-Präsident Donald Trump das Datum künftig als „Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg“ feiern – bislang war der 8. Mai in den USA als V-E Day (Victory in Europe) bekannt. (dpa, Reuters, AFP, KNA, epd)