»Liebe alle«: Warum dieser Schriftsteller nicht zu Klassentreffen geht

Die Menschheit zerfällt, was die Fähigkeit angeht, sich mit der eigenen Vergangenheit zu versöhnen, im Großen und Ganzen in zwei Gruppen: Es gibt jene, die nie, und es gibt die anderen, die immer zu Klassentreffen gehen.

Kann sein, dass die zweite Gruppe größer ist. Dafür hat die erste die besseren Argumente. Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, Abitur 1994 in Göttingen, beschreibt in seinem Buch »Panikherz« sehr schön, wie er 2014 die Einladung zu einem Wiedersehen bekommt. Natürlich wird er nicht hingehen, das weiß er in dem Moment, in dem er die Mail öffnet. Er wird nicht hingehen können. Weil ein Abiturtreffen eher nichts ist für Leute, die ständig nach »performativen Widersprüchen« fahnden.

Eine Klasse, ein Jahrgang besteht ja immer aus Typen. Aus Menschen beispielsweise, die etwas Lobenswertes »ganz großes Tennis« nennen. Oder die bei der obligatorischen Hausführung den »großzügigen Wohnbereich« präsentieren (»und hier, musst du dir vorstellen, war ’ne Wand«), lauter Eigenheiten, die schon Roger Willemsen bei seiner »Deutschlandreise« aufgefallen waren: überall Glasbausteine in der Fassade, überall gestuft angebrachte Hausnummern, überall der Wunsch nach Individualität, überall »lauter Andere und Gleiche, alles anders und gleich«; es ist kaum auszuhalten.

Stuckrad-Barre scheint der Einzige zu sein, der die falschen Töne hört. Eine Überempfindlichkeit gegen Phrasen und Klischees ist der Grund, eine Art soziale Misophonie.

So wie ein Misophoniker empfindlich auf Geräusche reagiert, auf Kauen und Schmatzen, Schlürfen, Räuspern und Schlucken, so reagiert Stuckrad-Barre empfindlich auf Geschwätz. Sein Problem ist, dass er all die Ausflüchte, Lügen und Selbsttäuschungen ungefiltert mitbekommt; seine Rettung ist, dass er die Zumutungen in Material verwandelt – Sätze wie »ich meine das jetzt null wertend« oder Bekenntnisse, die mit den Worten »jetzt mal ohne Witz« eingeleitet werden. Überall dasselbe Bemühen um Originalität; überall Scheitern.

Was wünschenswert wäre: Unterscheidbarkeit. Einzigartigkeit. Persönlichkeit.

Es geht ja ab einem gewissen Alter vor allem darum, einen Stil zu entwickeln, einen Sound. Einen Stil beim Sichkleiden, Auftreten, Leben; einen Sound beim Denken und Schreiben. Das Naheliegende zu meiden, das Überraschende zu suchen. Anders zu schreiben als alle anderen, das heißt vor allem: anders zu denken. Anderes zu denken. Gerade dort Verbindungen zu sehen, wo alle anderen nur Phänomene bestaunen.

»Panikherz«, zuallererst eine Verneigung vor Udo Lindenberg und eine grandiose Selbstentblößung, ist so gesehen auch eine Stilübung; ein Distinktionsversuch.

Denn Stuckrad-Barre ist ein großer Stilist: überdreht und lakonisch, atemlos und herrlich beiläufig, schonungslos, ziemlich lustig und dabei immer unverwechselbar.

Das Klassentreffen sagt er nicht einmal ab. Er flieht stattdessen ins Chateau Marmont, 8221 Sunset Boulevard, Los Angeles. Sein Freund Lindenberg bringt ihn dort unter, weil er will, dass Stuckrad-Barre ein wenig Abstand zu seinen diversen Süchten gewinnt.

Und dann, etliche tausend Kilometer von Göttingen entfernt: ein typischer Stuckrad-Barre-Absatz: Ach, das Meer.

Denn die Menschheit zerfällt auch, was die Bereitschaft angeht, sich von äußeren Umständen rühren zu lassen, in zwei Gruppen: Wald und Meer. Zwitschern und Rauschen. Grün oder Blau.

Enge oder Weite.

Und das Meer? »Schon einfach immer wieder die Antwort auf alles.«

Warum das nur von Stuckrad-Barre sein kann? Warum man sofort weiß, wer hier spricht?

Wegen der misophonen Anschaulichkeit (hier das Geraschel und Geschmatze, dort das an den Strand klatschende Meer) und wegen der kühnen, leicht durchgeknallten Schlussfolgerung, die einem, wenn man sie liest, sofort absolut zwingend erscheint. Wegen der schönen Gewissheiten (eindeutig), der Freude am starken Urteil (Wald nervt), und wegen der Füllwörter, die scheinbar entbehrlich und in Wahrheit natürlich unverzichtbar sind, weil gerade sie es sind, die in dieser Prosa die Arbeit machen (Schon einfach immer wieder).

Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, sollte Stuckrad-Barre irgendwann doch noch bei einem Klassentreffen auftauchen. Wie er dabei säße und alles, die Bemühungen um Lockerheit und um Originalität, wie ein Insektenforscher registrieren würde: erstaunt, fasziniert, ein wenig schaudernd.

Zwei Arten Menschen gibt es. Die einen wählen bei Gruppen-E-Mails die Anrede »Liebe alle.« Die anderen schreiben: »Das Meer ist in der Natur eindeutig der Punk.«

Stuckrad-Barre 1999: Schonungslos und ziemlich lustig

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Freunde Lindenberg, Stuckrad-Barre 2014: »Wald nervt.«

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Autor Stuckrad-Barre

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