Kristen Stewart und Scarlett Johansson: Der Regie-Nachwuchs von Cannes

Das Cannes-Filmfestival rühmt sich damit, Hollywood-Stars und die nächste Regie-Generation im Arthouse-Kino an die Riviera zu locken. Auch in diesem Jahr mutet die Dichte an großen Namen und spannenden Neuentdeckungen geradezu absurd an. Gut also, dass Thierry Frémaux vor einigen Jahren mit „Cannes Première“ noch eine weitere Reihe eingeführt hat.

Die traditionsreiche Reihe „Un Certain Regard“ erlebt in diesem Jahr ebenfalls eine Premiere: Gleich drei Hollywoodstars mischen mit ihren Regiedebüts den kleinen Wettbewerb auf, der eigentlich den aufstrebenden Talenten des Weltkinos vorbehalten ist. Kristen Stewart und Scarlett Johansson landeten diese Woche an der Croisette im grellen Scheinwerferlicht überhöhter Erwartungen und sorgten bei den Premieren für massives Celebrity-Aufkommen. Dagegen verblasste die Premiere des Debüts von Harris Dickinson fast ein wenig, der seit seiner Rolle in „Babygirl“ zu den hoffnungsvollsten Twentysomethings in Hollywood gehört.

Mit Schauspielern, die Regie führen, ist es ein wenig wie mit Popstars, die schauspielern: Die Mischung aus Eitelkeiten und künstlerischen Herausforderungen bringt meist gemischte Resultate hervor. Aber wenn man wie Stewart und Johansson schon im Alter von neun beziehungsweise zehn Jahren vor der Kamera stand, sind die Verlockungen natürlich groß, einmal etwas Neues zu versuchen. Man verfügt schließlich über Geld und Kontakte – und hat von den Besten gelernt (Johansson in den Filmen von Robert Redford, Sofia Coppola und Jonathan Glazer).

Traumata überschatten die Gegenwart

Stewart und Johansson gehören in Hollywood zu den einflussreichsten Schauspielerinnen ihrer Generation. Die 1984 geborene Johansson, weil sie – nicht zuletzt durch ihre Rolle im Marvel Cinematic Universe – auch an der Kinokasse erfolgreich ist. Sie hatte sogar den Mumm, sich mit Disney anzulegen. Stewart, Jahrgang 1990, wurde mit den „Twilight“-Filmen zwar zum Teen-Idol, sie hat ihr Portfolio danach aber sehr gezielt ihren filmischen Vorlieben angepasst. Für ihre Rolle in „Die Wolken von Sils Maria“ von Olivier Assayas gewann sie 2015 als erste Amerikanerin den César, den französischen Oscar.

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Kein Wunder also, dass Johanssons Tragikomödie „Eleanor the Great“ über eine 95-Jährige, die sich aus Einsamkeit als Holocaust-Überlebende ausgibt, und Stewarts „The Chronology of Water“, die Verfilmung der preisgekrönten Memoiren von Lidia Yuknavitch, außer ihrem Thema wenig gemeinsam haben. Beide Filme handeln von Erinnerungen. In „Eleanor the Great“ an den Holocaust, deren Zeitzeugen langsam sterben; in „The Chronology of Water“ an den Vater, der die junge Lidia zu Höchstleistungen als Schwimmerin drangsalierte und die Tochter sexuell missbrauchte.

Die 95-jährige June Squibb spielt in „Eleanor the Great“ von Scarlett Johansson die Hauptrolle.

© Sony Pictures

Die Traumata überschatten die Gegenwart. Aber während Johansson sie auf ganz konventionelle Weise über zwei Freundschaften erzählt, geht Stewart deutlich ambitionierter vor. „Eleanor the Great“ ist ein Schauspielerinnen-Film. Close-ups auf die 95-jährige June Squibb, die es ebenfalls nach Cannes geschafft hat, sind – trotz der französischen Kamerafrau Hélène Louvart – das bevorzugte Stilmittel. Es geht um die Frage, wem Erinnerungen gehören; und ob Lügen vielleicht doch einen wahren Kern haben, wenn die Motive aufrichtig sind.

Die schlagfertige, aber einsame Eleanor „leiht“ sich die Holocaust-Erinnerungen ihrer kürzlich verstorbenen besten Freundin Bessy (Rita Zohar) und nimmt an einer Gesprächsgruppe teil, in der jüdische Überlebende ihre Erlebnisse im KZ austauschen. Als die zum Judentum konvertierte Eleanor die Konsequenzen ihrer Lüge realisiert, ist es zu spät; aber die Geschichten, die sie erzählt, sind ja auch wahr. Es sind eben nur nicht ihre eigenen.

Johansson, die ein Drehbuch von Tory Kamen verfilmt hat, geht dramaturgisch eine weite Strecke, um etwas über die Urheberschaft von Erinnerungen und die befreiende Wirkung des Sich-Erinnerns zu erzählen. Eleanor freundet sich mit der Studentin Nina(Erin Kellyman) an, die gerade ihre Mutter verloren hat. Die Lüge überschattet auch diese Freundschaft. Aber „Eleanor the Great“ bügelt großzügig – und mit viel melancholischem Klaviergeklimper – über die grundlegenden Unterschiede in der Traumarbeit hinweg.

Jüdischsein bedeutet mehr als ein paar Rituale

Was es bedeutet, jüdisch zu sein, ist im Film letztlich ein bisschen egal, es sind vor allem Rituale. Nur dass eben Millionen von Menschen für ihr Jüdischsein sterben mussten. Aber Eleanor, die will auf ihre alten Tage noch ihre Bar Mitzwa erleben. Am Ende verzeihen die anderen Mitglieder der Gesprächsgruppe Eleanor ihre Lüge, weil sie damit Bessys Erinnerungen bewahrt. Und Nina vergibt ihrem Vater, der sie nach dem Tod der Mutter mit ihrem Schmerz allein gelassen hat. Traurige Klaviermusik. Close-up auf June Squibb.

Wasser mit Schutzfunktion. Lidia Yuknavitch schreibt in „The Chronology of Water“ über sexuellen Missbrauch im eigenen Elternhaus.

© Cannes Filmfestival

Neben „Eleanor the Great“, der mit der geballten Werbemaschine von Sony Pictures die anderen Newcomer in der „Un Certain Regard“ gnadenlos in den Schatten stellt, wirkt „The Chronology of Water“ fast schon wie ein Underdog. Aber Kristen Stewarts Film rauscht mit den Ambitionen einer Regisseurin heran, die überhaupt keine Scheu an den Tag legt, mit Pauken und Trompeten zu scheitern. Sie tut es nicht.

„The Chronology of Water“ ist eine Literaturverfilmung im allerbesten Wortsinn. Stewart hat nicht bloß Worte und Sätze verfilmt – ja, es wird auch viel gesprochen, oft im Voiceover –, sie hat die Syntax von Yuknavitch, ihren Sprachrhythmus und ihre verbalen Ausbrüche in eine ganz eigene Bildsprache übersetzt.

 Erinnerungen sind Geschichten, also denk dir besser eine aus, mit der du leben kannst.

Lidia Yuknavitch, Autorin von „The Chronology of Water“

Das Publikum bei der Premiere von „The Chronology of Water“ war deutlich hipper als bei „Eleanor the Great“, doch den It-Girl-Bonus hat Stewart mit dieser Feuerprobe abgelegt. Für eine Regiedebütantin verfügt sie über eine sehr klare Vorstellung davon, wie man von Traumata erzählt, ohne in Betroffenheitsklischees zu verfallen. Lidia Yuknavitch war eine begabte Schwimmerin, sie hätte beinah an den Olympischen Spielen 1980 in Moskau teilgenommen, bevor Alkohol und Drogen ihre Karriere frühzeitig beendeten. Danach begann sie wieder, sich dem Schreiben zu widmen.

Mosaik der Erinnerungen bleibt fragmentarisch

In ihren Memoiren, auf denen Stewarts Film basiert, berichtete sie erstmals vom sexuellen Missbrauch des Vaters – und wie ihr das Schreiben half, ihre zersplitterte Persönlichkeit neu zusammenzusetzen. Aber Erinnerungen fließen: Wasser als Metapher funktioniert im Film auf verschiedenen Bedeutungsebenen, es hat auch eine Schutzfunktion. Ähnlich mitreißend bringt Stewart auch die Bewusstseinsprozesse auf die Leinwand. Die impressionistischen Naheinstellungen, harten Schnitte und ausgewaschenen Farbspiele (gedreht auf 16mm-Material) wehren sich gegen eine eindeutige Lesbarkeit. Die Intensität der Bilder soll erfahren werden.

„The Chronology of Water“ ist ruhelos, bisweilen anstrengend, weil er seine Form und seine Geschichte konsequent in eins bringt. Das erinnert in dieser Rigorosität an den deutschen Wettbewerbsbeitrag „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski, der ebenfalls von physischen Traumata handelt. „Erinnerungen sind Geschichten, also denk dir besser eine aus, mit der du leben kannst“, sagt Lidia einmal, gespielt von einer unter innerer Anspannung nahezu zerberstenden Imogen Poots. Kristen Stewart hat nun einen Film gemacht, der die Dämonen der Vergangenheit einhegt. Aber die Regisseurin kann sie kaum kontrollieren, das Mosaik der Erinnerungen bleibt ein Fragment.