Berliner Tagesstätte für Wohnungslose wird 50: Wie Marco Gellrich nach neun Monaten auf der Straße zurück ins Leben fand

An einem Mittwochnachmittag im Mai betritt Marco Gellrich die City-Station der Berliner Stadtmission. Langsam öffnet er die Eingangstür, blickt sich um, lächelt. Vor knapp zwei Jahren war er häufig hier, aß, duschte, wusch seine Wäsche – und fand den Weg in ein neues Leben. Ohne die City-Station, erzählt er, wäre ihm das nicht gelungen.

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Die City-Station in der Joachim-Friedrich-Straße in Charlottenburg-Wilmersdorf feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum. 1975 vom Berliner Pastor Gerhard Kiefel ins Leben gerufen, entwickelte sich das Restaurant für alle sozialen Schichten schnell zu einem zentralen Anlaufpunkt für obdachlose und bedürftige Menschen. Unweit des Kurfürstendamms werden sie hier bis heute mit dem Nötigsten versorgt.

Mehr als 18.000 Menschen kamen 2024 in die City-Station

Gleichzeitig berät das Team aus Ehrenamtlichen und Sozialarbeitern die Gäste, hilft ihnen dabei, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Doch das ist schwierig. Denn immer mehr machen sich die Berliner Wohnungsnot und prekäre Arbeitsverhältnisse vor der Tür der City-Station bemerkbar. „Die Gästezahlen steigen extrem“, erklärt Leiterin Manuela Spiesecke. Kamen 2021 noch 13.102 Gäste in die Obdachlosentagesstätte, waren es im vergangenen Jahr bereits mehr als 18.000 Menschen. Menschen wie Marco Gellrich.

Marco Gellrich (46) isst in der City-Station der Berliner Stadtmission.

© Christoph Papenhausen

Er ist an diesem Tag in die Joachim-Friedrich-Straße gekommen, um über seine Zeit auf der Straße zu berichten. Während die ersten Gäste am frühen Nachmittag in die City-Station drängen, ihre Rucksäcke ablegen und sich an der Essensausgabe anstellen, sitzt der 46-Jährige an einem der Restauranttische und erzählt von 2023.

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50 Jahre City-Station

Am Dienstag, 17. Juni, feiert die Berliner Stadtmission das 50-jährige Jubiläum der City-Station in der Joachim-Friedrich-Straße 46.

Neben Grillbuffet und Musik stehen Comedy und eine Andacht auf dem Programm. Jede und jeder ist herzlich willkommen.

Von seinem letzten Geld kaufte er sich ein Zelt

Damals betrat er die City-Station zum ersten Mal. Zuvor hatte er sein Leben lang gearbeitet, leistete Wehrdienst bei der Bundeswehr, schleppte als Umzugshelfer Möbel, ließ sich zum Garten- und Landschaftsbauer umschulen. Für seine Freundin ging er 2008 nach Niedersachsen, lebte dort 15 Jahre mit ihr.

Dann allerdings trennten sich die beiden. Gellrich packte seine Tasche, ließ alles hinter sich und kehrte in seine Geburtsstadt Berlin zurück. „Ich bin davon ausgegangen, dass ich bei meiner Mutter unterkomme“, sagt er. Doch sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu, wollte nichts von ihm wissen. Eine emotionale Ausnahmesituation.

Mit 4000 Euro machte er sich auf den Weg, schlief in Pensionen, suchte eine Wohnung. Vergebens. Auch seine Ersparnisse waren schnell aufgebraucht. Von dem, was noch übrig war, kaufte er sich ein Zelt. In diesem Moment musste er sich eingestehen, dass er künftig auf der Straße leben würde. „Da rutscht man schnell rein“, sagt er. „Schneller, als man gucken kann“.

„Wie komme ich aus der Situation heraus?“

Weil er nicht wusste, wie er in seiner Lage Bürgergeld beantragen sollte, sammelte er Pfand. Während andere nach neuer Sommermode suchten, lief er an den Geschäften des Ku’damms vorbei, hielt Ausschau nach leeren Flaschen. Wenn er am Tag zehn Euro zusammenbekam, sagt er, sei er mehr als zufrieden gewesen.

In dieser Zeit habe er immer wieder gedacht: „Wie komme ich aus der Situation heraus?“ Doch er sah keine Lösung. „Das macht einem echt zu schaffen. Ich war beinahe depressiv.“ Ein Teufelskreis.

Erst, als er von der City-Station erfuhr, ergab sich eine neue Perspektive. Er freute sich über das günstige Essen und genoss die Ruhe. Eine willkommene Abwechslung zu seinem Alltag auf der Straße. Trotzdem hat es eine Weile gedauert, bis er sich den Sozialarbeitern öffnete. Der Grund: Er schämte sich. „Ich war vorher nie mit Obdachlosigkeit befasst“, sagt er. „Da hatte ich Scham, mich den Leuten anzuvertrauen.“

Sozialarbeiter Anatol Schmidt (32) arbeitet seit sieben Jahren in der City-Station. 2023 half er Marco Gellrich, eine Wohnung zu finden.

© PR Stadtmission

Etwas anders erinnert sich Anatol Schmidt an seine erste Begegnung mit Gellrich. Schmidt arbeitet seit sieben Jahren in der City-Station und ist einer der Sozialarbeiter, die sich damals um Gellrich gekümmert haben. „Ich fand Marco von Anfang offen. Er hat nicht direkt bei seinem ersten Besuch eine Beratung gesucht, aber den Kontakt“, berichtet er. Gellrich sei immer zugänglich gewesen und vor allem: immer ansprechbar. Alkohol und Drogen habe er nie angerührt.

Am Telefon organisiert Gellrich sein neues Leben

Nach und nach bauten Schmidt und seine Kollegen Vertrauen auf. Sie halfen Gellrich dabei, Sozialleistungen zu beantragen, unterstützten ihn beim Kontakt mit dem Jobcenter. Und sie zeigten ihm das Telefon der City-Station. Mit ihm organisierte Gellrich sein neues Leben.

Eines Tages stand er mit ebendiesem Telefon am Ohr in der City-Station. „Ich habe mit der Wohnhilfe der Stadtmission gesprochen“, erinnert er sich. „Und dann wurde mir gesagt, dass ich ein eigenes Zimmer bekomme“. Ein Wendepunkt. Ihm war klar, dass es nun bergauf gehen würde.

Manuela Spiesecke (58) leitet die City-Station.

© Christoph Papenhausen

Gellerich zog ein, bekam eine Grundausstattung von der City-Station und fand schließlich einen neuen Job. Seit November 2023 arbeitet er 30 Stunden die Woche als Hausmeister in einem Heim für Wohnungslose in der Kopenhagener Straße in Reinickendorf. Dort kümmert er sich um die Sanitäranlagen und renoviert Wohnungen.

Dass er dabei täglich mit obdachlosen Menschen zu tun hat, macht ihm nichts aus. „Die Obdachlosigkeit war eine Phase in meinem Leben. Die war hart. Aber Gott sei Dank habe ich es überstanden.“ In seinem eigenen Zimmer sitzend, habe er beschlossen, einen Schnitt zu machen und seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. „Jetzt kommen die guten Zeiten“, habe er damals zu sich selbst gesagt.

Nach einer Stunde steht Gellerich auf, tritt auf die Joachim-Friedrich-Straße. Vor der Tür sitzen Gäste und rauchen nach dem Essen. Er grinst und verkündet eine letzte gute Nachricht: Ab Juni, sagt er, wird er endlich Vollzeit als Hausmeister arbeiten.

Dann geht er, verschwindet im Menschenstrom auf dem Ku’damm. Zurück blickt er nicht.

Lesermeinungen zum Artikel

„Jeder Euro, der in diese wichtige Arbeit fließt, scheint mir gut angelegt. Und - wie man an Marco Gellerich sieht - bringt Zinsen. Alles Gute ihm und Hut ab, dass er durchgehalten hat.“ Diskutieren Sie über folgenden Link mit Owen28